G

1815
2005

Löhne

Einleitung

Das Kapitel gliedert sich in zwei Hauptteile, von denen der erste den Zeitraum 1815–1921 und der zweite den Zeitraum 1906–1990 abdeckt. Die Tabellen des ersten Teils informieren im wesentlichen über die Ergebnisse zweier retrospektiver Schätzungen, die vor einiger Zeit an der Forschungsstelle für schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich entwickelt worden sind. Zusätzlich drucken wir auch ab, was in früheren Jahren an der Universität Bern von Erich Gruner und Jörg Siegenthaler an Datenmaterial zusammengetragen worden ist.

Lohnreihen 1815–1890

Im Rahmen des Nationalfondsprojektes «Beiträge zur quantitativen Beschreibung wirtschaftlicher Entwicklung in der Schweiz im 19. Jahrhundert» haben Michael Bernegger und Heiner Ritzmann versucht, anhand von Aufzeichnungen privater Firmen den Verlauf der Lohnkurve des Zweiten Sektors und einiger seiner Hauptbranchen in den Jahren 1851 bis 1890 zu rekonstruieren. Weil das Quellenmaterial in bestimmten Fällen die Bildung von Reihen zuliess, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück reichen, können wir den Endindex der Industrielöhne auch für die 1820er, 30er und 40er Jahre ausweisen. Freilich stellt er in diesem frühen Zeitabschnitt nicht viel mehr als eine ziemlich grobe Schätzung dar. Gleiches gilt für die beiden mit absoluten Werten besetzten Endreihen, die bloss der Vollständigkeit halber in Tabelle G.1. aufgenommen worden sind. Es ist zu betonen, dass es sich hierbei um reine statistische Artefakte handelt, aus denen sich keinerlei Schlüsse über das absolute Niveau der nominellen und realen Branchenlöhne ableiten lassen. Um diese berechnen zu können, wäre eine sehr viel genauere Kenntnis der brancheninternen Beschäftigungsstruktur notwendig, als wir sie zur Zeit besitzen. Beispielsweise müsste man wissen, wie viele männliche und weibliche Karder, Knüpfer und Handwerker um die Mitte und am Ende des 19. Jahrhunderts in der Baumwollindustrie tätig waren. Ausserdem käme man nicht umhin, zahlreiche Reihen auf problematische Weise zu transformieren. So wäre es erforderlich, Tages- und Wochenlöhne in Stundenlöhne umzurechnen und aus Lohnsummenreihen und Beschäftigungsdaten auf den absoluten Lohnsatz zu schliessen. Weil dieser Weg nicht gangbar war, mussten sich Bernegger und Ritzmann damit begnügen, Branchenindizes zu konstruieren. Dabei wurde jeweils die einfachste Methode angewandt, indem die einzelnen Firmenreihen im Verhältnis von 1:1 gewichtet wurden. Es konnten die Aufzeichnungen folgender Firmen berücksichtigt werden:

  • Baumwollspinnerei: Jenny, Ennenda GL (1858 bis 1914); Gattikon, Thalwil ZH (1821–1856); Hürlimann, Rapperswil SG (1835–1880); Lorze, Baar ZG (1857–1914); Zangger, Uster ZH (1824 bis 1839 und 1872–1883); Blumer, Schwanden GL (1853–1864 und 1869–1898).
  • Baumwollweberei: Jenny, Ennenda GL (1862 bis 1899); Oberholzer, Wald ZH (1850–1856); Weber Aarburg AG (1887–1914); Spoerry, Wald ZH (1853–1900); Spälthy, Netstal GL (1866–1893); Trümpler, Uster ZH (1868–1876); verschiedene St. Galler Webereien (1867–1880, Angaben von Hermann Wartmann: Industrie und Handel des Kantons St. Gallen 1875–1921). Baumwolldruckerei: Blumer, Schwanden GL (1853 bis 1864 und 1869–1898); Jenny, Schwanden GL (1863–1899).
  • Seidenstoffweberei: Schwarzenbach, Thalwil ZH (1852–1911).
  • Seidenbandweberei: Württemberghof BS (1845 bis 1913); Bachofen BS (1862–1873).
  • Florettspinnerei: Alioth BS (1852–1873).
  • Färberei und Appretur: Clavel BS (1874–1900).
  • Wollspinnerei und Wollweberei: Hefti, Hätzingen GL (1837–1873).
  • Leinenweberei: Schmid & Co., Burgdorf BE (1879 bis 1887).
  • Chemie: Schnorf, Uetikon ZH (1823–1890).
  • Metall- und Maschinenindustrie: Rieter, Winterthur ZH (1851–1901).
  • Bauindustrie: Stadtbauamt Zürich (1813–1860); Jakob Staub, Zürich (1860–1887).
  • Eisenbahnen: Nordostbahn, Zentralbahn und Vereinigte Schweizerbahnen (1853–1900).

Die geschätzten Branchenindizes wurden von Ritzmann gemäss untenstehendem Schema, in das sowohl Angaben aus amtlichen Publikationen als auch retrospektive Schätzwerte (vgl. Kapitel F.: Erläuterungen zum Tabellenteil und Tabelle F.1) Eingang gefunden haben, gewichtet und zu einem allerdings nur für die deutschsprachige Schweiz repräsentativen nationalen Industrielohnindex verarbeitet. Der Hauptmangel dieser aggregierten Indexreihe besteht darin, dass sie die Verhältnisse in der Stickerei und in der Uhrenindustrie ignoriert. Eine Rekonstruktion der Lohnkurven in diesen beiden Fachindustrien scheiterte daran, dass die Produktionsverhältnisse in beiden Fällen viel zu komplex waren, als dass man es hätte wagen können, aus den wenigen überlieferten Einkommensreihen auf die Lohnbewegung in der gesamten Branche zu schliessen. Gleichwohl sind wir der Meinung, dass der von uns konstruierte Gesamtindex die tatsächliche Entwicklung der Industrielöhne im Zeitraum 1821/40 bis 1890 etwas besser wiedergibt als die von uns zu Vergleichszwecken herangezogenen Schätzungen von Schwarzmann, J. Siegenthaler und Gruner. Die teilweise krassen Abweichungen zwischen diesen Schätzungen und der unsrigen, aber auch zwischen der Schätzung Gruners und derjenigen J. Siegenthalers, lassen sich u. a. darauf zurückführen, dass nicht dieselben Quellen ausgeschöpft wurden, die Branchenreihen nicht in der gleichen Weise gewichtet wurden und auch bei der Konstruktion des Deflators – der Lebenshaltungskosten bzw. des Konsumentenpreisindexes – verschieden vorgegangen wurde. Eine ins Detail gehende Methodenkritik muss an dieser Stelle leider unterbleiben.

Lohnreihen 1890–1921

Die am Nationalfondsprojekt «Reallöhne schweizerischer Industriearbeiter von 1890 bis 1921» beteiligten Wirtschaftshistoriker waren beauftragt, die an die Lohnabhängigen des Zweiten Sektors und im Verkehrswesen ausbezahlten Löhne pro geleistete Arbeitsstunde zu schätzen. Als Zielgrösse definierte die Autorengruppe die effektiv ausbezahlten Löhne, was bedeutete, dass sowohl die Akkordlöhne als auch die regelmässig ausbezahlten Teuerungszulagen, die nach 1917 in allen Branchen mit Ausnahme der Bauwirtschaft eine wesentliche Rolle spielten, erfasst werden mussten. Nicht eingeschlossen sind in dieser Schätzung freilich die einem Teil der Arbeiterschaft gewährten ausserordentlichen Zulagen und Vergünstigungen und die Trinkgelder, die namentlich bei den Fuhrleuten einen erheblichen Teil des Lohneinkommens ausmachten.

Die Mitarbeiter dieses Projektes erwartete eine sowohl regionenwie branchenspezifisch höchst uneinheitliche Quellenlage. Es erschien geboten, sich bei der Verwertung des primären Datenmaterials bewusst auf homogene Reihen von möglichst grosser Reichweite zu beschränken. Diese Kriterien erfüllten am besten die von den Kantonsbehörden geführten Unfallverzeichnisse, die teilweise auch über die Löhne der verunfallten Arbeiter informieren. Solche erzeichnisse sind hauptsächlich für die Kantone Zürich (1890–1918), Bern (1899, 1906–1918) und Solothurn (1897–1902) überliefert. Wo sie grössere Lücken aufweisen oder überhaupt fehlen, wurden Lohnerhebungen einzelner Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sowie Lohnbücher von Firmen beigezogen. Der Untersuchungsraum musste auf die grossen Städte Zürich, Bern und Basel, die Mittelstädte Winterthur und Biel sowie das Zürcher Oberland und den nördlichen Teil des Kantons Bern, d. h. zwei industrialisierte Landregionen, eingegrenzt werden. Damit repräsentieren die regional aggregierten Daten die allgemeine Lohnentwicklung in den Industrieorten – Orte mit in der Regel über 2500 Einwohnern – der neun Kantone Zürich, Bern (ohne Jura und Oberland), Luzern, Zug, Solothurn, Basel- Landschaft, Basel-Stadt, Aargau und Schaffhausen. Mithin blieben auch in diesem Projekt zwei der wichtigsten Fachindustrien des Landes, die Stickerei und die Uhrenindustrie, bei der Konstruktion des Gesamtlohnindexes unberücksichtigt. Die Heterogenität des Quellenmaterials hatte zur Folge, dass bei der Bildung lokaler Branchenlohnindizes nicht nach einem einheitlichen Schema vorgegangen werden konnte. Für die Stadt Zürich liessen sich Lohnreihen für insgesamt 22 Berufe konstruieren: Bierbrauer, Bäcker; Schneider; drei Bauberufe, Schreiner; sechs Textilberufe; vier Metallberufe; Typographen und Einlegerinnen; Eisenbahnarbeiter, Fuhrknechte, Bierfuhrleute. In allen anderen Fällen stützten sich die Autoren auf eine ungleich schmalere Quellenbasis ab, als sie die Bewegung der lokalen Branchenlohnreihen schätzten. Meist hatten sie sich mit einem Datenset zu begnügen, der einen oder mehrere Berufe der Getränke-, der Bau- und der Metallindustrie, des Transportwesens und des Graphischen Gewerbes umfasste. Das Spektrum der berücksichtigen Berufe konnte nur dann noch etwas ausgeweitet werden, wenn sich die Erwerbstätigen der betreffenden Region in bestimmten Branchen konzentrierten (Textilindustrie, Chemie).

Soweit sich die Möglichkeit dazu bot, wurde pro Region und Beruf für jedes einzelne Jahr ein absoluter durchschnittlicher Stundenlohn ermittelt. Da sich die Lohnangaben in den Quellen auf unterschiedliche Zeitspannen beziehen, war es unumgänglich, generell auf Stundenlöhne umzurechnen. Dies wiederum bedingte, dass vorgängig für jeden Beruf und für jedes Jahr die mittlere Arbeitszeit ermittelt werden musste. Wir haben die entsprechenden Zahlen in Kapitel F. («Beschäftigung») abgedruckt.

Die Berufslohnreihen wurden nun zu gewichteten Branchenlohnreihen zusammengefasst; gewichtet wurde mit der Beschäftigungsstatistik von 1910. Anschliessend wurde aus den überregionalen Branchenlohnreihen ein gesamtschweizerischer Index der Arbeiterlöhne berechnet, wobei die Gewichtung wiederum anhand der Beschäftigungsstatistik von 1910 erfolgte. Auf Branchenebene ist die Qualität der Schätzreihen unterschiedlich zu veranschlagen: Den zuverlässigsten Eindruck hinterlassen die beiden Indizes, die den Lohnanstieg in der Metall- und Maschinenindustrie und in der Bau- und Holzbranche dokumentieren, während auf der anderen Seite der Index, der über die Lohnentwicklung in der chemischen Industrie orientiert, den unschönen Mangel aufweist, dass er aus den Aufzeichnungen einer einzigen Firma gewonnen wurde.

Es fällt auf, dass in den Jahren, in denen sich die retrospektive Schätzung mit der zeitgenössischen Lohnstatistik überschneidet, die geschätzten Werte die von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUA) angegebenen Werte fast immer signifikant überschreiten. Die Autoren der Studie «Reallöhne schweizerischer Industriearbeiter von 1890 bis 1921» vermuten, dass in der Unfall-lohnstatistik die Teuerungszulagen nicht berücksichtigt worden sind. Für diese These spricht der Umstand, dass die beiden Lohnreihen in der Baubranche, in der keine Teuerungszulagen ausbezahlt wurden, nur geringfügig voneinander abweichen.

Index der Industrielöhne im Zeitraum 1821–1890: Gewichtung der einzelnen Branchen (erwerbstätige Bevölkerung)

[TABELLE EINFUEGEN]

Lohnreihen 1906–1990

Die zweite Hälfte des Tabellenteils enthält fast ausschliesslich Ergebnisse amtlicher Erhebungen. Es handelt es sich dabei um die Lohnstatistik der SUVA und die sog. Allgemeine Lohn- und Gehaltserhebung des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA), die jeweils im Oktober als Direkterhebung durchgeführt wird. Die Angaben über die Löhne verunfallter Arbeiter beziehen sich auf den Zeitraum 1918–1983, während die Allgemeine Lohn- und Gehaltserhebung des BIGA erst 1939 bzw. 1942 einsetzt, dafür aber näher an die Gegenwart heranreicht als die Unfallstatistik. Beide Statistiken sind nicht nur nach Branchen gegliedert, sondern unterscheiden auch verschiedene Kategorien von Lohnempfängern. Indessen haben wir uns dazu entschieden, nur bei einer der beiden Statistiken, der Allgemeinen Lohn- und Gehaltserhebung des BIGA, die branchenmässige Entwicklung der Löhne für jede einzelne Kategorie von Lohnempfängern gesondert darzustellen. Hinsichtlich der Unfallstatistik erschien es angebrachter, die in den Jahren 1948 bis 1972 in der Zeitschrift «Die olkswirtschaft» abgedruckten Zahlen zur Lohnentwicklung in den Kantonen und einigen grösseren Städten in die vorliegende Publikation aufzunehmen.
Durch das Unfallversicherungsgesetz vom 1. Januar 1984 sind erstmals alle Arbeitnehmer zum Abschluss einer Versicherung verpflichtet worden. Diese Neuerung erlaubte es dem BIGA, eine verbesserte Lohnstatistik zu konzipieren, die repräsentativer als die alte Statistik ist. Wenn wir dennoch auf den Abdruck dieser Tabelle verzichten, so deswegen, weil sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt erst auf einige wenige Jahre erstreckt und weil die Entwicklung der Branchenlöhne im Zeitraum 1984–1990 auch anhand der Ergebnisse der Allgemeinen Lohn- und Gehaltserhebung verfolgt werden kann. Die entsprechenden Zahlen sind im Statistischen Jahrbuch der Schweiz und in der Zeitschrift «Die olkswirtschaft» veröffentlicht worden, wobei erwähnt werden muss, dass die Branchengliederung im Statistischen Jahrbuch in den Jahren 1968–1986 mit derjenigen in der «Volkswirtschaft» nur zum Teil identisch ist. Unseren Tabellen liegen die erheblich detaillierteren Angaben der letztgenannten Quelle zugrunde.

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