D. Krankheiten und Todesursachen
D.1a
Lebenserwartung
D.2
Ärzte nach Kantonen
D.3
Todesfälle infolge Lungentuberkulose
D.4
Todesursachen (ZH)
D.5
Typhusepidemie (ZH)
D.6
Choleraepidemie (ZH)
D.7
Pocken (ZH)
D.8a
Pockenepidemie (BE)
D.9
Todesursachen nach Geschlecht (SZ)
D.10
Todesursachen nach Berufen (GL)
D.11
Todesursachen (SO)
D.12
Todesursachen (AR)
D.13
Todesursachen (SG)
D.14
Choleraepidemie (AG)
D.15a
Todesursachen in Basel
D.15b
Choleraepidemie (BS)
D.15c
Diphtherie (BS)
D.16
Todesursachen (TG)
D.17
Todesursachen (SH)
D.18ab
Todesursachen nach Geschlecht (NE)
D.19
Akademische Berufe im Gesundheitswesen
D.21
Selbständige Ärzte, Heilpraktiker und Pflegepersonal
D.22
Hebammen nach Kantonen
D.24
Ansteckende Krankheiten
D.25a
Pockenerkrankungen nach Kantonen
D.25b
Pocken nach Impfstatus
D.26
Scharlacherkrankungen nach Kantonen
D.27
Erkrankungen an Kindbettfieber
D.28
Diphtherieerkrankungen nach Kantonen
D.29
Typhuserkrankungen nach Kantonen
D.30a
Kinderlähmung nach Kantonen
D.31a
Aids: Infektionen nach Geschlecht und Patientengruppe
D.32
Todesursachen (Männer)
D.33
Todesursachen (Frauen)
D.34
Todesursachen (Total)
D.35
Todesfälle nach Organerkrankungen
D.36
Nicht bescheinigte Todesursachen nach Kantonen
D.37
Todesfälle infolge Pocken nach Kantonen
D.38
Todesfälle infolge Masern nach Kantonen
D.39
Todesfälle infolge Scharlach nach Kantonen
D.40
Todesfälle infolge Diphtherie nach Kantonen
D.41
Todesfälle infolge Keuchhusten nach Kantonen
D.42
Todesfälle infolge Typhus nach Kantonen
D.43
Todesfälle infolge Lungentuberkulose nach Kantonen
D.45
Todesfälle infolge Magendarmentzündung nach Kantonen (Säuglinge)
D.46a
Todesfälle infolge Syphilis nach Kantonen
D.46b
Todesfälle infolge Syphilis nach Kantonen und Geschlecht
D.47a
Todesfälle infolge Krebs nach Kantonen
D.47b
Todesfälle infolge Krebs nach Lokalisation und Geschlecht
D.48a
Todesfälle infolge Grippe nach Monaten und Geschlecht
D.48b
Todesfälle infolge Grippe nach Altersklassen
D.48c
Todesfälle infolge Grippe (Stadt Zürich, Kanton Basel-Stadt)
D.49
Selbstmord, Unfall und Mord bzw. Totschlag nach Geschlecht
D.50a
Selbstmordfälle nach Kantonen
D.50b
Selbstmord nach Geschlecht
D.50c
Mortalitätsziffer der Selbstmordversuche
D.50d
Selbstmordfälle nach Geschlecht und Altersklassen
D.51
Unfälle mit Todesfolge nach Kantonen
D.52
Gemeldete Krankheiten in der Stadt Zürich
D.53
Gemeldete Fälle ansteckender Krankheiten in der Stadt Bern
D.54
Nicht bescheinigte Todesursachen nach Städten
D.55
Todesfälle infolge epidemische Infektionskrankheiten nach Städten
D.61
Todesfälle infolge Lungentuberkulose nach Städten
D.62
Todesfälle infolge Kindbettfieber nach Städten
D.64
Selbstmordfälle nach Städten
D.66
Todesursachen in der Stadt Zürich
D.67a
Pockenerkrankungen in der Stadt Zürich
D.68a
Todesursachen in der Stadt Bern
D.69
Ersteinweisung in psychiatrische Kliniken
D.70
Körpergrössenverteilung von Rekruten (Schaffhausen)

D

1801
1995

Krankheiten und Todesursachen

Einleitung

Die medizinhistorische Statistik hat die hiesige Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten kaum beschäftigt. Seit Mitte der 1980er Jahre ruft uns jedoch der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der Immunschwäche Aids wieder eindringlich ins Bewusstsein, wie verheerend sich eine Infektionskrankheit, gegen die noch kein wirksames Gegenmittel entwickelt worden ist, auswirken kann. Aber auch Leiden, die eigentlich seit langem für heilbar angesehen werden, fordern noch immer zahlreiche Opfer. Dass nur permanent aktiver Widerstand vor der Wiederkehr überwunden geglaubter Schreckgespenster schützt, führte uns beispielsweise im Jahr 1993 eine Kinderlähmungsepidemie in Holland vor Augen. Blickt man über den europäischen Kontinent hinaus, wird vollends deutlich, wie enorm die Herausforderungen sind, mit denen sich die moderne Medizin nach wie vor konfrontiert sieht. Strenggenommen können heute einzig die Pocken, die infolge des fehlenden Vertrauens der Bevölkerung in die Pockenschutzimpfung in diesem Land noch in den 1920er Jahren epidemisch aufgetreten sind, weltweit als ausgerottet gelten. Andere Infektionskrankheiten wie Cholera, Typhus, Lungenentzündung und Kindbettfieber, aber auch die Kinderkrankheiten Masern, Scharlach und Röteln, sodann die beiden noch zu Beginn dieses Jahrhunderts vom Volksmund «Würgeengel» genannten Zwillingskrankheiten Diphtherie und Keuchhusten und schliesslich die Tuberkulose, eine der schlimmsten Geisseln des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, haben ihren früheren Stellenwert in der Statistik der Todesursachen mittlerweile zwar weitgehend eingebüsst, doch könnte man genausogut behaupten, sie seien durch moderne «Zivilisationsseuchen» wie Krebs und Kreislaufstörungen bloss abgelöst worden. Dabei gilt es freilich in Rechnung zu stellen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung insbesondere bei jungen Menschen im Zeitraum 1890–1990 sehr stark angestiegen ist (vgl. Tabelle D.1.). Aus diesem Grund ist Vorsicht geboten, wenn z. B. die langfristige Entwicklung einer so unscharf umschriebenen Krankheit wie «Altersschwäche» quantitativ interpretiert werden soll. Derselbe Einwand ist auch bei einer statistischen Langzeitanalyse der Todesfälle infolge von Kreislaufstörungen und Krebs angebracht. Allgemein stellt sich die Frage, inwieweit die im Vergleich zur Gegenwart sehr viel tiefere Lebenserwartung des 19. Jahrhunderts dafür verantwortlich zu machen ist, dass bestimmte Krankheiten vor 100 Jahren nicht häufiger, sondern seltener aufgetreten sind als heute.

Ein umfassender historisch-statistischer Abriss des schweizerischen Gesundheitswesens wird in diesem Kapitel nicht geboten; behandelt werden ausschliesslich die epidemiologischen Verhältnisse in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. So wurde beispielsweise darauf verzichtet, Zahlen zur Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, zum Patientenbestand einzelner Spitäler oder zum Mitgliederzuwachs bei den Krankenkassen aufzuführen. Der Beitrag konzentriert sich vielmehr ganz auf die drei Bereiche Medizinalpersonal, amtlich registrierte Krankheitsfälle und Todesursachen, wobei den letzteren der Datenlage wegen mit Abstand am meisten Beachtung geschenkt wurde. Die nachfolgenden Ausführungen sind dieser asymmetrischen thematischen Dreiteilung angepasst.

Medizinalpersonal

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verkleinerte sich die Palette der medizinischen Berufe zusehends, wichen die Bader und Scherer, Wundärzte und niederen Chirurgen immer mehr den gelehrten Ärzten, die ihr Wissen vor einer kantonalen Kommission unter Beweis stellen mussten. Im Zeitraum 1810 bis 1860 lassen sich die seitens der kantonalen Behörden gemachten Angaben zum Medizinalpersonal noch kaum untereinander vergleichen, variierten doch die Umschreibungen für die einzelnen Berufe des Gesundheitswesens von Kanton zu Kanton.

Jedoch begann sich allmählich ein kantonsübergreifender Konsens über die Unhaltbarkeit dieser Situation abzuzeichnen. Nachdem sich einige Kantone bereits im Sinne einer gegenseitigen Anerkennung des Arztdiploms verständigt hatten, schlossen im Jahr 1867 Zürich, Bern, Schwyz, Glarus, Solothurn, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen und Thurgau ein Konkordat über die gegenseitige Freizügigkeit des Medizinalpersonals. Später traten dieser Vereinbarung der Reihe nach auch Baselland, Luzern, Uri, Zug, Appenzell Innerrhoden, Aargau, Neuenburg und Graubünden bei. Andere Kantone wiederum behielten ihre frühere Gesetzgebung bei und verblieben infolgedessen auch ausserhalb des Konkordates. Dieser Umstand führte dazu, dass sich verschiedene «Schlupfwinkel» bildeten, in denen die aus den Konkordatskantonen verbannten Medizinalpersonen weiterhin ihr Handwerk ausüben durften.

Auf Bundesebene regelt seit 1877 ein Gesetz die Freizügigkeit des Medizinalpersonals, indem es das eidgenössisch anerkannte Fachexamen zur Voraussetzung einer freien Niederlassung erklärt. 1886 wurde dieses Gesetz, das zunächst nur Ärzte, Apotheker und Tierärzte betraf, auch auf den Zahnarztberuf ausgedehnt. Personen, die sich über ein Diplom des Konkordates von 1867 ausweisen konnten oder ein gleichwertiges kantonales Patent besassen, gewährte das Bundesgesetz von 1877 ebenfalls die Niederlassungsfreiheit. Die Abkommen, welche die Schweiz in der Folge mit dem Deutschen Reich (1884), dem Fürstentum Liechtenstein (1885), Österreich-Ungarn (1885), Italien (1888) und Frankreich (1888) schloss, garantierten darüber hinaus auch ausländischen Ärzten die freie Berufsausübung.

Die Qualität der statistischen Erfassung des Medizinalpersonals hat von dieser Entwicklung augenscheinlich stark profitiert. So setzt schon vor der Jahrhundertwende eine nach Kantonen untergliederte Statistik von hoher Glaubwürdigkeit ein, die jährlich über den Bestand der praktizierenden Ärzte unterrichtet. Auch die Veränderungen im Bestand der Apotheker und Zahnärzte lassen sich seit etwa 1890 problemlos in Form von Langzeitreihen dokumentieren. Grössere Schwierigkeiten hat den Behörden anscheinend die korrekte Erfassung der Tierärzte bereitet. Die Hebammen schliesslich wurden in den kantonalen Sanitätsarztberichten des 19. Jahrhunderts zwar in der Regel zusammen mit den Ärzten, Apothekern, Zahnärzten und Tierärzten als Medizinalpersonen aufgeführt; im Statistischen Jahrbuch der Schweiz jedoch wird ihr Bestand auf Kantonsebene nur bis 1928 ausgewiesen. Für die nachfolgenden Dezennien verfügen wir dann nur noch über die Angaben aus den Volkszählungen der Jahre 1930, 1941, 1950, 1960, 1970 und 1980 zum Bestand der freischaffenden und angestellten Hebammen.

Polizeilich gemeldete Erkrankungen

1886 stimmte das Schweizervolk der Einführung einer Meldepflicht beim Auftreten von «gemeingefährlichen Epidemien» zu. Unter diesen Begriff fielen zunächst nur vier Krankheiten, nämlich Pokken, Cholera, Flecktyphus und die Pest. Doch bereits ein Jahr später kam man überein, die Meldepflicht auch bei anderen ansteckenden Krankheiten einzuführen, und nach weiteren vier Jahren war es soweit, dass die aus den Kantonen eingetroffenen Meldungen im Sanitarisch-demograhischen Wochenbülletin – einem Vorläufer des heutigen Bulletins des Bundesamts für Gesundheitswesen – abgedruckt werden konnten. Gleichwohl vermitteln die amtlichen Angaben über das Auftreten von Epidemien auch nach den Zäsuren von 1886, 1887 und 1891 bestenfalls eine vage Vorstellung von der tatsächlichen epidemiologischen Situation. Verantwortlich für die vergleichsweise geringe Zuverlässigkeit der schweizerischen Morbiditätsstatistik des späten 19. Jahrhunderts dürften in erster Linie die geringe Ärztedichte, nachlässig durchgeführte Erhebungen und eine unzureichend ausgebildete Diagnostik gewesen sein. Auf der anderen Seite steht aber auch fest, dass sich die Fehlerquote bei der Erfassung der Erkrankungsfälle in den nachfolgenden Jahrzehnten erheblich verringert hat. Daraus ergibt sich, dass der langfristige Rückgang der Morbidität zumindest bei einigen Krankheiten wesentlich steiler verlaufen sein muss, als dies die statistischen Aufzeichnungen suggerieren. Das bedeutet indessen nicht, dass dieses Datenmaterial überhaupt keinen interpretatorischen Wert besitzt. Lässt man die gebotene Vorsicht walten, kann es sehr wohl dazu verwendet werden, um sich einen ungefähren Eindruck von der Entwicklung der Morbidität bei einzelnen Krankheiten in den letzten 100 Jahren zu verschaffen.

Leider gilt dasselbe nicht auch für die schweizerische Spitalstatistik und schon gar nicht für die privatärztlichen Aufzeichnungen. Die Statistik der Vereinigung schweizerischer Krankenhäuser (VESKA) basiert noch heute auf der freiwilligen Mitarbeit einiger 100 Spitäler, denen kein repräsentativer Charakter zugesprochen werden kann. Bei den von Privatärzten durchgeführten Erhebungen verhält es sich so, dass ihrer einfach nicht genügend viele sind, als dass auf dieser Grundlage der Versuch einer gesamtschweizerischen oder auch bloss kantonalen Hochrechnung gewagt werden könnte.

Todesursachen

Beim Entwurf der ersten gesamtschweizerischen Todesursachenstatistik hat sich die schweizerische Ärztekommission England zum Vorbild genommen, wo schon 1836 eine solche Statistik ins Leben gerufen worden war. 1875 erwirkte die Ärztekommission, dass das Eidgenössische Statistische Bureau von der Bundesversammlung zusätzlich zu der von ihm seit 1867 wahrgenommenen Aufgabe, eine Jahresstatistik der Geburten, Sterbefälle und Trauungen zu führen, den Auftrag erhielt, auch über die ärztlich bescheinigten Todesursachen zu informieren. Das Ausstellen eines mit einer genauen Bezeichnung der primären Todesursache versehenen Totenscheins wurde freilich nicht zu einem landesweit strikt einzuhaltenden Obligatorium erklärt, sondern in einer vagen Formulierung als Pflicht umrissen, der die Ärzte «wenn immer möglich» nachkommen sollten.

Vor 1875 war die ärztliche Bescheinigung der Todesursachen nur in ganz wenigen Kantonen vorgeschrieben, nämlich in Zürich, Basel-Stadt, Neuenburg und Genf. Ein nach Todesursachen differenzierender interkantonaler Vergleich der Sterbefälle macht für die 1850er, 60er und frühen 70er Jahre bei den meisten Krankheiten noch wenig Sinn, weil sich bis 1875 in der Schweiz keine einheitliche Nomenklatur der Todesursachen durchgesetzt hat. Einer statistischen Interpretation zugänglich ist allenfalls die Kurve der an einer bestimmten Krankheit verstorbenen Personen in einzelnen Kantonen. Entsprechende Reihen von ungleicher Länge und Qualität wurden von uns für Zürich, Schwyz, Glarus, Solothurn, Basel-Stadt, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen, Thurgau und Neuenburg rekonstruiert, indem entweder die jährlichen Rechenschaftsberichte des Regierungsrates oder des Sanitätsarztes ausgewertet oder dann andere für ausreichend kompetent erachtete Quellen herangezogen wurden.

Es erscheint allerdings geraten, diese Reihen aus dem frühen und fortgeschrittenen 19. Jahrhundert nicht unbesehen mit den Zahlen zu verknüpfen, die seit 1876 in den «Statistischen Lieferungen» abgedruckt wurden. Denn nicht allein die Terminologie der Krankheitsbenennungen hatte sich in der Zwischenzeit grundlegend geändert; wichtiger noch ist, dass traditionelle Benennungen von Krankheiten wie «Gallenfieber», «Schleimfieber» oder auch «Dicker Hals» auf ein medizinisches Konzept zurückgehen, mit dem die spätere, den verbesserten Erkenntnisstand der modernen Medizin reflektierende Systematik absolut nichts mehr gemein hat. Zwei besonders krasse Beispiele mögen verdeutlichen, was dieser Sachverhalt konkret impliziert: «Typhus», heute ein Synonym für Bauchtyphus, wurde im 19. Jahrhundert fast jede Erkrankung genannt, die Bewusstseinstrübungen oder ein mit Magendarmreizungen verbundenes Unwohlsein hervorrief. Und was die Zürcher und Thurgauer Sanitätsärzte in den 40er, 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts in ihren Berichten mit «Wassersucht» umschrieben haben, steht nicht etwa für ein ungewöhnliches Suchtleiden, bei dessen Bekämpfung man dermassen erfolgreich gewesen wäre, dass es in die revidierte Todesursachenstatistik von 1876 schon gar nicht mehr aufgenommen zu werden brauchte, sondern bezeichnet lediglich bestimmte Symptome, die u. a. bei Herzund Nierenleiden und bei chronischer Mangelernährung aufzutreten pflegen. Weniger problematisch erscheint der Vergleich der vom Eidgenössischen Statistischen Bureau herausgegebenen Todesursachenstatistik mit früheren kantonalen Statistiken hinsichtlich der bei Geburten oder im Wochenbett eingetretenen Todesfälle, der Lungentuberkulose und einiger akuter epidemischer Krankheiten. Mit Sicherheit untereinander vergleichbar sind die Angaben über die durch äussere Gewalteinwirkung zu Tode gekommenen Personen (Selbstmord, Unfall und Mord bzw. Totschlag). Auch nach 1875 war die Erfassung der Todesursachen in einigen Kantonen äusserst mangelhaft, wie aus der nach Kantonen untergliederten Statistik der unbescheinigten und ungenau diagnostizierten Todesfälle hervorgeht. In einer der drei grossen Untersuchungen, die das Eidgenössische Statistische Bureau im Rahmen seiner Sonderpublikationsreihe «Ehe, Geburt und Tod» den Todesursachen gewidmet hat, kann man nachlesen, wieviel Ärger den Bundesbeamten daraus erwachsen ist, dass ein Teil der Totenscheine von arroganten Ärzten ausgefüllt und von ignoranten Zivilstandsbeamten bearbeitet wurde. Die sprichwörtliche Unleserlichkeit der ärztlichen Handschrift war das eine Hauptproblem, das zweite bestand darin, dass manche Ärzte die Krankheiten, die sie als Todesursachen identifiziert hatten, partout einzig mit einer lateinischen Vokabel bezeichnet haben wollten. Dazu kam drittens, dass die Bereitschaft der Ärzte zur Mitarbeit in einigen Gegenden – besonders im Wallis – nicht sehr ausgeprägt war, was den Prozentsatz der unbescheinigten und ungenau umschriebenen Todesursachen in den betreffenden Kantonen in traurige Höhen schnellen liess. Die auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich hoch anmutende Rate hat indessen auch damit zu tun, dass es in der Schweiz – im Unterschied zu vielen anderen Ländern – gesetzlich vorgeschrieben war, dass das Ausstellen eines amtlichen Totenscheins durch einen Arzt erfolgen musste.

Den Zivilstandsbeamten oblag es, die von den Ärzten gemachten Angaben gleichsam ins Reine zu schreiben und an das Eidgenössische Statististische Bureau weiterzuleiten. Dort wurde man dann gewahr, dass einige der Zivilstandsbeamten dem Ärztelatein offenbar nicht vollumfänglich gewachsen waren, fanden sich auf gewissen Listen doch Krankheiten verzeichnet, die in der amtlichen Nomenklatur der Todesursachen überhaupt nirgends vorkamen. Mit der Durchführung von Nachkontrollen hoffte das Bureau, den durch Irrtümer dieser Art angerichteten Schaden an der Gesamtstatistik wieder beheben zu können. Möglicherweise wäre ihm dies auch gelungen, hätte es zu allem Übel nicht auch noch eine vierte Fehlerquelle gegeben, die sich fatalerweise jeglicher Überprüfung entzog – die Treffsicherheit der ärztlichen Diagnostik. Bedenkt man, dass in jüngster Zeit wissenschaftliche Studien ergeben haben, dass der Befund der Pathologie die von den Ärzten gemachten Angaben über das Hauptleiden verstorbener Patienten gar nicht so selten widerlegt, kann man sich in etwa ausmalen, wie verbreitet Fehldiagnosen beim Eruieren von Todesursachen vor 100 Jahren gewesen sein müssen.

Bei den richtig diagnostizierten Todesursachen drängt sich die Frage auf, ob nicht eine zweite, längerfristig ebenfalls tödliche Erkrankung übersehen worden sein könnte. Wie viele der zu den Unfallopfern gerechneten Toten hatten beispielsweise an Tuberkulose gelitten? Wie hoch war der Anteil der Krebskranken, die «vorzeitig» von einer Typhusepidemie hinweggerafft wurden? War der Wunsch nach rascher Erlösung von einem unheilbaren Leiden ein unbedeutendes oder ein statistisch ins Gewicht fallendes Selbstmordmotiv? Und noch von einer anderen Seite her melden sich gegenüber einem allzu unbefangenem Umgang mit der Statistik der Todesursachen Bedenken: Analog zu den Angaben über die Zahl der Geburten, Heiraten und Scheidungen (siehe Kapitel C.) beziehen sich auch die Angaben über die an einer bestimmten Krankheit gestorbenen Personen seit 1890 auf die Wohnbevölkerung, während im Zeitraum 1876–1890 die ortsanwesende Bevölkerung als Bezugsgrösse fungiert hatte. Für die Gross- und Mittelstädte hat das Eidgenössische Statistische Bureau in den Jahren 1889 und 1890 zwei Tabellen publiziert, von denen die eine den Aufenthaltsort und die andere den Wohnort der gestorbenen Personen festhält. Vergleicht man die beiden Statistiken miteinander, so wird deutlich, dass die Zahlen bei einigen Krankheiten beträchtlich auseinandergehen.

Es zeigt sich also, dass die Tabellen dieses Kapitels durchaus nicht für sich selbst sprechen. Gleichwohl sollte man sich davor hüten, über die schweizerische Todesursachenstatistik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorschnell den Stab zu brechen. So sehr ihr gegenüber auch gewichtige Vorbehalte angebracht sind, so verfehlt wäre es, dieser Datenquelle generell jede Bedeutung und Brauchbarkeit abzusprechen. Zu einem solchen Pauschalurteil besteht um so weniger Anlass, als ich das Eidgenössische Statistische Bureau seit dem Erscheinen des ersten Bandes der «Statistischen Lieferungen» immer wieder von neuem in vorbildlicher Weise um eine qualitative Verbesserung der von ihm veranlassten Erhebungen bemüht hat. Eine Frucht dieser Bestrebungen war die vollständige Umgestaltung der Nomenklatur der Todesursachen im Jahre 1901. Gleichzeitig wurde dem Argument, dass die präzise Umschreibung der Todesursache auf den Totenscheinen auf eine Verletzung des Gebots der ärztlichen Schweigepflicht hinauslaufe, die Spitze gebrochen, indem das Amt die Einführung anonymer Sterbekarten anordnete.

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ging dann jeder Volkszählung eine Revision der Todesursachen-Nomenklatur parallel. 1960 wurden keine Änderungen mehr vorgenommen, da zu diesem Zeitpunkt bereits Sondierungen im Hinblick auf eine Übernahme des «International Code of Diseases» (ICD) im Gange waren. 1970 hat die Schweiz diesen Code übernommen; seither besitzt also die schweizerische Mortalitätsstatistik den Vorteil internationaler Vergleichbarkeit. Der Nachteil, dass der vierstellige ICD der schweizerischen Klassifikation an Genauigkeit bei weitem unterlegen ist, darf als unerheblich angesehen werden, weil zur gleichen Zeit ein fünfstelliger Code erfunden wurde, der unterhalb der vier Ebenen des ICD die Feinabstufungen der schweizerischen Nomenklatur beibehält. Da es sich dabei um die achte schweizerische Revision der Statistik der Todesursachen handelte, erhielt diese Klassifikation, die auch heute noch in Gebrauch ist, den Namen ICD-8.

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