Y

1780
1993

Kultur und Medien

Einleitung

Gegenstand dieses Kapitels sind zwei Themenbereiche, die aufgrund ihrer weitreichenden inhaltlichen Überlappungen schwerlich getrennt voneinander dokumentiert werden könnten. So stellt beispielsweise eine Zeitung nicht nur ein Medium dar, das einem Lesepublikum bestimmte Botschaften zu übermitteln sucht, sondern bildet darüber hinaus einen Bestandteil der politischen und sozialen Kultur der Gesellschaft, aus der sich eben dieses Lesepublikum rekrutiert. Theater, Kino und Rundfunk gehören ebenfalls in diese Kategorie von Medien, die Kultur sowohl vermitteln als auch repräsentieren. Umgekehrt lassen sich zahlreiche kulturelle Erscheinungen und Erzeugnisse aufführen, die nicht die Funktion haben, Informationen und Meinungen zu transportieren. Insofern haftet unserer Entscheidung, zwischen Kultur- und Medienstatistik keinen Unterschied zu machen, zugegebenermassen etwas Willkürliches an. Indessen musste die Auswahl der zu präsentierenden Reihen ohnehin nach subjektiven Kriterien getroffen werden. Der Verfasser dieses Kapitels bittet um Verständnis dafür, dass er in dieser Situation gleichsam zum Opfer seiner persönlichen Neigungen geworden ist und sich den über dem Eingang zur Stiftsbibliothek St. Gallen eingemeisselten Spruch zu eigen gemacht hat, dem geschriebenen Wort komme die Bedeutung einer «Arzneistube der Seele» zu. Es bleibt zu hoffen, dass die Leserinnen und Leser der «Historischen Statistik» es nicht als Zumutung empfinden, auf den nachfolgenden Seiten zwar einiges über Bibliotheken, Bücher, Zeitungen und Theaterstücke, aber rein gar nichts über Sportveranstaltungen und die gesamte Radio- und Fernsehkultur zu erfahren.

Bibliotheken 1868–1985

An der Schwelle vom Früh- zum Hochmittelalter gegründet, verkörpert die Stiftsbibliothek St. Gallen die älteste noch existierende Leihbücherei der Schweiz. Aber auch die Benediktinerbibliothek von Einsiedeln konnte schon vor längerer Zeit ihren 1000jährigen Geburtstag feiern. So weit zurück begeben wir uns in der «Historischen Statistik» natürlich nicht, datiert doch die früheste, von Ernst Heitz erstellte gesamtschweizerische Bibliothekenstatistik aus dem Jahr 1868. Über die Hauptergebnisse seiner aufwendigen Nachforschungen informierte Heitz anlässlich eines 1871 an der Jahresversammlung der Schweizerischen Statistischen Gesellschaft gehaltenen Vortrags; interessante Detailinformationen zu einzelnen Instituten lieferte er ein Jahr später in seiner Publikation «Die öffentlichen Bibliotheken in der Schweiz im Jahre 1868» nach. Wenngleich sicherlich der eine oder andere Vorbehalt an der Qualität dieser privaten Erhebung angebracht ist, steht doch ausser Zweifel, dass sie mit ausserordentlicher Sorgfalt und Seriosität betrieben worden ist. Dieselbe Gründlichkeit zeichnet auch die erste amtliche Vollerhebung der schweizerischen Bibliotheken aus, die freilich erst drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs realisiert werden konnte, nachdem es einer Kommission der 1895 ins Leben gerufenen Schweizerischen Landesbibliothek geglückt war, die Landesbehörden von der Dringlichkeit einer solchen Statistik zu überzeugen. Danach dauerte es erneut fast ein halbes Jahrhundert, bis das Eidgenössische Statistische Amt eine Anregung der Vereinigung schweizerischer Bibliothekare aufgriff und eine zweite Vollerhebung auf Landesebene veranlasste. Ende der 1970er Jahre wurde nochmals von privater Seite ein Versuch unternommen, die Gesamtzahl der schweizerischen Bibliotheken und deren Bestände zu eruieren: Im Rahmen ihrer Dissertation über die Dienstleistungen der schweizerischen Bibliotheken hat Edith Bartholomeusz eine Statistik der Institute und Bestände angefertigt, die es trotz ihres unvollständigen Charakters verdient, zumindest auszugsweise im Tabellenteil dieses Kapitels wiedergegeben zu werden.
Mit der Strukturierung unserer Tabellen tragen wir dem Umstand Rechnung, dass die Erhebungen von 1868, 1911, 1959/60 und 1980 nicht durchwegs dieselben Aspekte des Bibliothekswesens beleuchten und daher auch nur bedingt miteinander vergleichbar sind. Am ehesten ist es noch die unterste Aggregationsstufe, die eindeutigen Aufschluss über bestimmte langfristige Enwicklungen zu erteilen vermag. Aus diesem Grund drucken wir im Anschluss an die kantons- und teilweise auch bezirksweise gegliederten Tabellen zusätzlich noch die wichtigsten Kennzahlen zu den grösseren Bibliotheken des Landes ab. Da es uns trotz intensiver Sucharbeit nicht gelungen ist, das Urmaterial der Zählung von 1959/60 aufzustöbern, klafft in dieser Darstellung zwischen den Erhebungen von 1911 und 1980 allerdings eine riesige Lücke. Die Zahlen, die wir für 1980 und 1985 abdrucken, entstammen der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Jahresreihe «Schweizerische Bibliotheken». Es ist zu beachten, dass diese bereits in den 1920er Jahren einsetzende, aber erst seit 1978 über die vorhandenen Bücherbestände orientierende Publikation lediglich für einen Teil der schweizerischen Bibliotheken Angaben macht. Die Klosterbibliotheken beispielsweise, die gemäss der Erhebung von Bartholomeusz auch nach heutigen Massstäben über sehr ansehnliche Buchbestände verfügen, sind darin nicht aufgeführt.

Zeitungen 1840/60–1990

Unserem Überblick über die Auflagestärke und Erscheinungshäufigkeit von 33 schweizerischen Zeitungen im Zeitraum 1840–1990 haben eine Vielzahl von Quellen Pate gestanden. Zunächst schien es so, als müssten wir uns damit begnügen, die von Karl Weber für das Jahr 1848 und von Erich Gruner für drei weitere Stichjahre angegebenen Auflagenzahlen einiger weniger Zeitungen zur Kenntnis zu nehmen. Später fand sich dann in den von Josef Jäger, Ernst Bollinger und Linda S. Kropf zwischen 1966 und 1976 verfassten Arbeiten über das schweizerische Zeitungswesen zusätzliches Zahlenmaterial, das die 1950er, 60er und frühen 70er Jahre abdeckt. Als grösste Entdeckung aber entpuppte sich die bereits 1939 veröffentlichte Dissertation des Schaffhausers Karl Bürgin, die einen nahezu vollständigen Überblick über den schweizerischen Zeitungsmarkt in den Jahren 1896, 1913 und 1930 bietet. Und schliesslich ist an dieser Stelle der wertvollen Hilfe zu gedenken, die uns das Dokumentationszentrum des Verbandes Schweizerischer Werbegesellschaften (VSW) in Lausanne zuteil werden liess, indem es auf unsere Anfrage hin eine seiner Mitarbeiterinnen, Frau Fuchs, damit beauftragte, auf der Basis der vom Dokumentationszentrum betreuten «Kartei der Schweizer Presse» für eine Reihe von Zeitungen einen historisch-statistischen Steckbrief zu entwerfen. Wir sind auf diese Weise in den Besitz einer Statistik gelangt, die für einen Zeitraum von 55 Jahren präzise Angaben zum Gründungsjahr, zur Erscheinungshäufigkeit und zur Auflagestärke von gut zwei Dutzend Zeitungen macht. Was die Auflagenzahlen anlangt, so bedurften sie allerdings noch der Bearbeitung: Um eine einigermassen homogene Kalenderjahresstatistik zu erhalten, die den Vergleich zwischen der Auflagehöhe verschiedener Zeitungen zulässt, haben wir die sich jeweils bloss auf einen bestimmten Tag im Jahr beziehenden Angaben zu Mittelwerten umrechnen müssen. In ihrer jetzigen Gestalt setzt sich die Tabelle ausschliesslich aus Schätzwerten zusammen, die den Verlauf der Auflagekurven von 33 Zeitungen lediglich in grober Weise skizzieren.

Auswertung von Neujahrsleitartikeln dreier Zeitungen 1841–1980

An der Universität Zürich hat der Soziologe Manuel Eisner anhand von Zeitungsmaterial einen Datensatz kreiert, der gewisse Aussagen darüber erlaubt, wie die Entwicklung der politischen Kultur in der Schweiz im fortgeschrittenen 19. und im 20. Jahrhundert verlaufen ist. Der Autor der 1991 veröffentlichten Dissertation «Politische Sprache und sozialer Wandel» war so freundlich, uns den Datensatz zuzusenden.
Eisners bis an den Anfang der 1840er Jahre zurück reichende Indexreihe basiert auf einer Auswertung von Neujahrsleitartikeln der freisinnigen «Neuen Zürcher Zeitung», des katholisch-konservativen «Vaterlands» und des sozialdemokratischen «Volksrechts». Nach mehrmaliger Überarbeitung des Datenmaterials verfügte Eisner über vier Indikatoren, mit denen sich die in den Texten ausfindig gemachten kulturellen Orientierungen statistisch beschreiben liessen. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei diesen Indikatoren um Prozentzahlen, die dadurch gewonnen wurden, dass in den Artikeln vorkommende Substantivgruppen in Relation zur Gesamtzahl der in den Artikeln gezählten Substantive gesetzt wurden. Die von ihm gebildeten Substantivgruppen definiert Eisner wie folgt: «In der Kategorie Angstgefühle sind all jene Substantive zusammengefasst, welche in irgendeiner Weise Gefühle der Angst, des Verlustes, der Bedrohung oder des Mangels ausdrücken sowie Substantive, welche angstauslösende Prozesse oder Situationen benennen. In der Kategorie normative Orientierung werden all jene Substantive verkodet, welche ethische oder politische Prinzipien, Verpflichtungen oder Weltanschauungen ausdrücken, seien diese säkularer oder religiöser Art. Instrumentelle Orientierungen werden durch all jene Substantive angezeigt, welche ein instrumentelles Verhältnis zur Welt, ein tätiges Eingreifen und eine Orientierung an Zielen und Mitteln kennzeichnen. In der Kategorie kognitive Orientierungen schliesslich erscheinen all jene Substantive, welche Prozesse oder Ergebnisse des Bezeichnens, Denkens, Erkennens, Fragens und Beschreibens bezeichnen.»
Den im Tabellenteil dieses Kapitels abgedruckten Indexreihen liegen die von Eisner mit gleitenden fünfjährigen Mittelwerten geglätteten Durchschnittswerte der drei Zeitungen zugrunde. (Für die ersten fünf Jahrzehnte, in denen es das «Volksrecht» noch nicht gab, wurde der Mittelwert aus den Indizes der «Neuen Zürcher Zeitung» und des «Vaterlands» berechnet). Die Glättungsoperation erschien Eisner notwendig, weil sich eine Interpretation jährlicher Werte infolge der vergleichsweise kleinen Textbasis verbot.
Mit einer umfassenden Auswertung von Zeitungsartikeln wartet auch der 1993 von Kurt Imhof, Heinz Kleger und Gaetano Romano herausgegebene erste Band der Reihe «Krise und sozialer Wandel» auf, der dem unruhigen Zeitabschnitt 1910–1940 gewidmet ist. Auf der Grundlage einer Unzahl von Artikeln der «Neuen Zürcher Zeitung», des «Vaterlands», des «Tages-Anzeigers» und der «Tagwacht» haben die Autoren dieser Untersuchung eine Liste sogenannter Medienereignisse angefertigt, worunter sie «durch Zeitungsredaktionen konstruierte Sinneinheiten» verstehen. Ihr Vorgehen bestand darin, die Ereignisse, über die in den eingesehenen Zeitungen Bericht erstattet worden war, mit der Länge der jeweiligen Artikel zu gewichten. Die zehn Ereignisse, denen die Journalisten am meisten Aufmerksamkeit geschenkt hatten, wurden in eine Rangordnung gebracht und mit einer Prozentzahl versehen, die über das relative Gewicht des jeweiligen Ereignisses an der Gesamtlänge der zehn Artikel unterrichtet. Da diese von Esther Kamber bearbeitete Statistik im Anhang der genannten Publikation vollständig abgedruckt ist, haben wir sie nicht in die «Historische Statistik der Schweiz» integriert. Das Prädikat einer Pionierleistung möchten wir ihr an dieser Stelle aber gleichwohl verleihen.

Theater und Oper in neun grösseren und mittleren Städten 1943/44–1985/86 ...

Im Statistischen Jahrbuch der Schweiz finden sich seit 1944 interessante, wenn auch bruchstückhafte Informationen zum schweizerischen Theatermarkt. Aus der Bearbeitung dieser Angaben resultierte ein immerhin 43 Spielsaisons umfassender Überblick über die Zahl der Aufführungen und Besucher sowie das Platzangebot und die Finanzlage bekannter Theater in den Städten Zürich, Basel, Genf, Bern, Lausanne, Luzern, St. Gallen, Biel und Solothurn. Einige der abgebildeten Reihen sind allerdings mit Inhomogenitäten behaftet, die es nahelegen, von einer den gesamten Beobachtungszeitraum umfassenden Interpretation abzusehen. Dieser Vorbehalt gilt insbesondere für die Stadt Lausanne, wo sich die Zahlen zunächst nur auf das Gemeindetheater, dann auf das Gemeindetheater und das Theater Beaulieu und schliesslich auf das Gemeindetheater, das Theater von Vidy und das «Theater der falschen Nasen» beziehen.

... und in der Stadt Zürich 1834/35–1934/35

Was die amtliche Statistik der Jahre 1944–1987 nicht mitteilt, sind die Namen der Autoren und der Stücke, die in den verschiedenen Theatern aufgeführt worden sind. Auch in den Statistischen Jahrbüchern der Städte Zürich, Basel, Genf, Bern und St. Gallen fehlen entsprechende Übersichten. Das heisst indessen keineswegs, dass auf diesem Gebiet eine Auswertung von Primärdaten undurchführbar oder nicht sinnreich wäre. Anlässlich des 100. Geburtstages des Zürcher Stadttheaters im November 1934 hat Wilhelm Bickel in den Zürcher Statistischen Nachrichten einen Aufsatz veröffentlicht, der diese offenbar damals schon verbreitete Ansicht souverän widerlegt. Wir räumen der «fachfremden» Meisterleistung des späteren Professors für Volkswirtschaft und grossen alten Mannes der schweizerischen Demographiegeschichte im Tabellenteil nicht allein deswegen eine volle Doppelseite ein, um die Leserinnen und Leser des vorliegenden Bandes mit einigen quantitativ fassbaren Aspekten der Geschichte des Zürcher Stadttheaters vertraut zu machen, sondern wir möchten mit dem Abdruck dieser Zahlen überdies illustrieren, was «Historische Statistik» auch sein kann – und unseres Erachtens nach Möglichkeit auch sein sollte.

QUELLE: «Kultur und Medien» in Ritzmann/Siegenthaler, Historische Statistik der Schweiz, Zürich: Chronos, 1996, 1121-1126


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