Einleitung
Die Erläuterungen zum Tabellenteil dieses Kapitels beschränken sich auf eine Diskussion unserer Schätzung der nominalen und realen Wertschöpfung für die Jahre 1851–1913. Bei den übrigen Tabellen handelt es sich – mit Ausnahme der vom St. Galler Zentrum für Zukunftsforschung auf Branchenebene ausgewiesenen Wertschöpfungsreihen für die Jahre 1960–1990, die uns in Form von Computerausdrucken zur Verfügung gestellt wurden – durchwegs um Kompilationen aus dem Statistischen Jahrbuch der Schweiz, diversen Spezialpublikationen des Eidgenössischen Statistischen Amtes bzw. des Bundesamtes für Statistik und einer Beilage zur Oktoberausgabe 1985 der Zeitschrift «Die Volkswirtschaft».
Die ersten grösseren Sozialproduktsschätzungen wurden in der Schweiz Mitte der 1920er Jahre von Paul Mori und Julius Wyler vorgenommen. Obwohl beide Schätzungen dasselbe Jahr, nämlich 1924, betreffen, weichen sie um mehr als 25% voneinander ab. Es ist hier nicht der Ort, um die von Wyler und Mori bei der Konstruktion ihrer Schätzreihen angewandten Methoden im Detail – wo sich der Teufel bekanntlich am liebsten aufhält – zu würdigen; wir belassen es bei dem Hinweis, dass die beiden Autoren der Präsentation ihrer Ergebnisse in der Zeitschrift für schweizerische Statistik und Volkswirtschaft vorerst keine weiteren Taten folgen liessen. Nachdem dann aber Wyler vom Eidgenössischen Statistischen Amt mit der Erstellung einer jährlichen Einkommensstatistik betraut worden war, konnte der Öffentlichkeit in den späten 1930er Jahren endlich eine amtliche Schätzung des schweizerischen Volkseinkommens vorgelegt werden. Die Wylersche Schätzmethode, die auch bei der retrospektiven Berechnung des Volkseinkommens in den Jahren 1929–1937 Anwendung fand, ist noch bis 1960 beibehalten worden. Drei Jahre später hat man dann erstmals den Versuch unternommen, das Sozialprodukt mit modernen wirtschaftswissenschaftlichen Methoden zu berechnen. Schon nach wenigen Jahren musste die Schätzung makroökonomischer Grössen jedoch «aufgrund des unzureichenden Ausgangsmaterials auf dem Gebiet der Wirtschaftsstatistik» wieder aufgegeben werden. Ein neuer Anlauf führte dazu, dass 1977 eine grössere Publikation mit dem Titel «Revidierte Reihen der Nationalen Buchhaltung der Schweiz» erscheinen konnte, die homogenisierte Schätzreihen für den gesamten Zeitraum 1948–1976 enthält. Ein 1983 veröffentlichter Anschlussband deckt die Jahre 1977–1981 ab, und über die Entwicklung in den nachfolgenden Jahren erteilen die 1985 einsetzenden, mit «Die Nationale Buchhaltung der Schweiz» überschriebenen statistischen Berichte zur schweizerischen Volkswirtschaft Auskunft. Es bleibt indessen festzuhalten, dass die Schweiz über eine vollständige, d. h. auf der Ebene der Zahlungsbilanz angesiedelte, volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erst seit dem Jahr 1983 verfügt. Wer an diesen Gesamtübersichten interessiert ist, findet sie in den Beilagen zur Zeitschrift «Die Volkswirtschaft» und zum Monatsbericht der Schweizerischen Nationalbank.
Die erste Doppelseite im Tabellenteil dieses Kapitels orientiert über die Hauptresultate der im Rahmen des Nationalfondsprojektes «Geldmenge und Wirtschaftswachstum 1851–1913» durchgeführten Wertschöpfungsschätzungen. Auf welche Weise in der Schweiz die Wertschöpfung des Ersten und Zweiten Sektors und der Dienstleistungsbranchen Gastgewerbe, Verkehr, Banken, Versicherungen und Öffentlicher Sektor geschätzt worden ist, kann in den Erläuterungen zu den entsprechenden Kapiteln dieses Bandes nachgelesen werden. Zu kommentieren bleiben im folgenden noch die Grobschätzungen der Wertschöpfung in den Branchen «Persönliche Dienstleistungen» und «Handel». Anschliessend werden wir kurz auf die Qualität der nominalen Gesamtwertschöpfungsreihe eingehen. Einige Bemerkungen zu dem wohl delikatesten Aspekt der ganzen Schätzproblematik, der Konstruktion des Deflators, leiten schliesslich direkt zum Tabellenteil dieses Kapitels über.
Grobschätzung der Wertschöpfung des Gross- und Detailhandels
Es stand uns nicht genügend Zahlenmaterial zur Verfügung, um die Wertschöpfung dieser wichtigen Branche zuverlässig zu schätzen. Dennoch musste ein solcher Schätzversuch unternommen werden, sollte das Ziel einer aus absoluten Werten zusammengesetzten aggregierten Wertschöpfungsreihe nicht verfehlt werden. In dieser Notlage haben wir zu einer äusserst gewagten Konstruktion Zuflucht genommen, indem wir die Differenz zwischen Konsumenten- und Grosshandelspreisindex als Bewegungsindikator verwendeten. Anhand der Volkszählungsresultate eruierten wir die in den Jahren 1860, 1870, 1880, 1888, 1900 und 1910 in der Handelsbranche beschäftigten Erwerbstätigen und bildeten mittels Inter- und Extrapolationen eine durchgehende Beschäftigungsreihe. Davon ausgehend, dass die Zahl von ca. 5000 Franken Wertschöpfung pro beschäftigter Person, auf die wir in den «Berichten und Rechnungen» des Allgemeinen Consumvereins Basel zu den Jahren 1891–1895 gestossen waren, für die gesamte Handelsbranche unterstellt werden dürfen, veranschlagten wir diese Grösse für das Jahr 1850 auf 3000 und für das Jahr 1910 auf 6000 Franken und verbanden die beiden Werte mit einer Geraden. Die so für die Jahre 1850, 1860, 1870, 1888, 1900 und 1910 gewonnenen Fixpunkte konnten nun durch den Bewegungsindikator miteinander verbunden werden. Im Endergebnis resultierte eine Schätzreihe, deren Werte auf den ersten Blick stark überhöht anmuten, wenn man ihnen die Wertschöpfungsschätzungen für die übrigen Branchen gegenüberstellt. Indessen gilt es zu beachten, dass die Handelsbranche auch in der Schätzung des St. Galler Zentrums für Zukunftsforschung ein recht hohes relatives Gewicht zugewiesen bekommt, nämlich 1960 18,0%, 1965 18,3% und 1970 17,3%, während unsere Schätzung für 1910 einen Anteilswert von 15,2% ausweist. In seiner Untersuchung über die schweizerischen Konsumgenossenschaften schrieb Hans Müller Mitte der 1890er Jahre, dass über die Dichte der Krämerläden zwar nichts bekannt sei, dass aber «dort, wo noch keine Konsumvereine bestehen, in allen Ecken und Enden solche ‹Lädeli› zu finden sind, woraus wiederum folgt, dass schon auf ein paar 100 Seelen eine Familie entfällt, die sich ihr Einkommen durch den Zwischenhandel verdient» (Hans Müller: Die schweizerischen Konsumgenossenschaften – ihre Entwicklung und ihre Resultate; Basel 1896, S. 440). Diese Beobachtung lässt es denkbar erscheinen, dass die Handelstätigkeit, die ja neben dem privaten Kleinhandel und den Konsumgenossenschaften auch noch sämtliche Grosshandelsgeschäfte beinhaltet, in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Tat die mit Abstand wichtigste Branche des Dienstleistungssektors gewesen sein könnte.
Grobschätzung der Wertschöpfung der Branche «Persönliche Dienstleistungen»
Aufgrund der Ergebnisse der Volkszählungen im Zeitraum 1860–1920 und mit Hilfe von «Furrer’s Volkswirtschaftslexikon» (Bd. I, S. 225) konnte eine durchgehende Zeitreihe erstellt werden, die über den Anteil des Dienstpersonals am Beschäftigungstotal orientiert. Gestützt auf den in Kapitel G. abgebildeten Index der Industrielöhne und auf Angaben des Schweizerischen Bauernsekretariats (Mitteilungen Nr. 30: «Die landwirtschaftliche Arbeiterfrage», S. 100) über das aus Barlohn, Verpflegung und Wohnung zusammengesetzte Jahreseinkommen einer Dienstmagd zur Zeit der Jahrhundertwende (702 Franken) wurde daraufhin die Lohnsumme sämtlicher Mägde, Knechte und Diener, d. h. des gesamten Dienstpersonals, geschätzt und kurzerhand der Wertschöpfung dieser Branche gleichgesetzt. Eine Kontrollrechnung für das Jahr 1888 ergab eine Abweichung von lediglich 20 Franken zwischen dem vom Schweizerischen Bauernsekretariat angegebenen Jahreseinkommen einer Dienstmagd (571 Franken) und unserer auf der Industrielohnreihe basierenden Wertschöpfungsschätzung (551 Franken). Gleichwohl kommt einer auf diese Weise gebildeten Wertschöpfungsreihe bestenfalls der Charakter einer Grobschätzung zu.
Qualität der aggregierten nominalen Wertschöpfungsreihe 1851–1913
Da die von uns auf der Ebene der Branchen und Sektoren konstruierten Wertschöpfungsreihen teilweise mit gravierenden Schwächen behaftet sind, stellt auch das Gesamtresultat unserer Recherchen kein qualitativ hochwertiges Produkt dar. Dies stand für uns freilich von Anfang an fest; wer über die Datenlage einigermassen im Bilde ist, wird es schon als Erfolg werten, dass überhaupt ein Gesamtresultat vorliegt. Vielleicht wird man sogar noch etwas weiter gehen und die Behauptung wagen dürfen, dass sich unsere Schlussreihe eigentlich ganz plausibel ausnimmt – zumindest aus der Vogelperspektive. Wir können uns an dieser Stelle nicht auf einen Vergleich mit den Wertschöpfungsschätzungen einlassen, die für andere europäische Länder angestellt wurden, stellen aber mit einer gewissen Erleichterung fest, dass unser Schätzwert von 4000 Millionen Franken im Jahr 1910 die sich auf dasselbe Jahr beziehende Schätzung Ulrich Zwinglis und Edgar Ducrets (4324 Millionen Franken) nur unwesentlich unterschreitet. Allerdings haben Zwingli und Ducret nicht das Bruttoinlandprodukt, sondern das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen geschätzt, eine Grösse, die im Unterschied zum Bruttoinlandprodukt auch das Nettoeinkommen aus dem Ausland, nicht aber die volkswirtschaftlichen Abschreibungen mit einschliesst. Die Differenz zwischen den beiden Schätzungen nimmt zu, wenn man bei der Ermittlung der Wertschöpfung für das Jahr 1910 das Nettoeinkommen aus dem Ausland vernachlässigt, bei den Abschreibungen dagegen einen signifikant von Null verschiedenen Wert einsetzt. Andererseits ist zu bedenken, dass für die Jahre 1910 und 1913 auch Schätzungen vorliegen, die bedeutend tiefer angesetzt sind als diejenige von Zwingli und Ducret. So haben Franz Ritzmann, Ernst Laur, Julius Landmann und Paul Mori aufgrund ihrer Berechnungen für 1910 bzw. 1913 Werte von 4100, 4000, 3500 und 3400 Millionen Franken berechnet. Traugott Geering veranschlagte das schweizerische olkseinkommen im letzten orweltkriegsjahr sogar auf bloss 2500–3000 Millionen Franken. Für das Jahr 1900 haben Zwingli und Ducret mit Hilfe von Ersatzindikatoren (Bankbilanzsummen und Einfuhrwerte) ein Nettosozialprodukt von 2500–2800 Millionen Franken errechnet, während W. Geiger, F. Kneschaurek und W. Winkler einen Wert von 2230 Millionen Franken angeben. (Die Zahlen sind dem in der Bibliographie aufgeführten Aufsatz von Zwingli und Ducret entnommen). Unsere eigene Schätzung weist für das Jahr 1900 einen Wert von rund 2500 Millionen Franken aus, stimmt also mit dem unteren Grenzwert der Schätzung Zwinglis und Ducrets überein. Dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Wertschöpfung des Handels wirklich so hoch war, wie wir vermuten.
Qualität der aggregierten realen Wertschöpfungsreihe 1851–1913
Dass die Wertschöpfung zu laufenden Preisen noch keinen tauglichen Wohlstandsindikator abgibt, liegt auf der Hand. Wirtschaftlicher Wohlstand bemisst sich ja vorab an der Kaufkraft der Konsumenten, und um über diese Kaufkraft etwas aussagen zu können, bedarf es einer realen, die Entwicklung des allgemeinen Preisniveaus berücksichtigenden Grösse. Unsere Aufgabe bestand mithin darin, einen aggregierten Preisindex oder Deflator anzufertigen. Die mit dieser Arbeit betraute Mitarbeiterin, Hildegard Muff, hat zu diesem Zweck zunächst einen sich über die Jahre 1851–1890 erstreckenden Konsumentenpreisindex (KPI) konstruiert, der sich problemlos mit dem im Rahmen des Nationalfondsprojektes «Reallöhne schweizerischer Industriearbeiter von 1890 bis 1921» generierten Preisindex «Nahrungsmittel, Getränke, Heizung und Beleuchtung» verketten liess (vgl. «Erläuterungen» zum Tabellenteil des Kapitels H.). Störend wirkt allenfalls, dass das von Muff nach der Formel von Laspeyres berechnete Aggregat lediglich die Preisentwicklung in den Städten Zürich und Bern wiedergibt, während der 1890 anschliessende Index geographisch sehr viel breiter abgestützt ist. Bei einer Überarbeitung der Reihe wäre in allererster Linie der Tatsache Rechnung zu tragen, dass auch für die französischsprachige Schweiz vertrauenswürdige Preisstatistiken überliefert sind.
Im Anschluss an die Schätzung des KPI hat Muff diese Indexreihe zu einem sogenannten Konsumdeflator erweitert, in den neben den Gruppen Nahrungsmittel, Getränke, Heizung und Beleuchtung noch drei weitere Subindizes eingeflossen sind, nämlich eine Wohnkosten-, eine Bekleidungs- und eine Baukostenreihe. Da wir nicht restlos davon überzeugt sind, dass die Qualität des Deflators von diesen Zusatzoperationen wirklich profitiert hat, haben wir die von uns geschätzte nominale Wertschöpfungsreihe vorsichtshalber nicht nur mit dem Konsumdeflator, sondern auch mit dem KPI bereinigt. Ein Urteil über die Qualität der beiden Ergebnisreihen abzugeben, trauen wir uns im jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu.
QUELLE: «Nationale Buchhaltung» in Ritzmann/Siegenthaler, Historische Statistik der Schweiz, Zürich: Chronos, 1996, 859-864